01.07.2022 – Kategorie: Geschäftsstrategie
Softwareentwicklung: Wie sich die Branche zwischen Krise und Erfolg aufstellt
Die Softwareentwicklung ist in der ersten Hälfte des Jahres 2022 von Umbrüchen und Aufstiegen gekennzeichnet. Der neue Software-Report von GP Bullhound zeigt, welche Einflüsse die Lieferketten-Krise und der Ukraine-Krieg auf die Softwarebranche haben.
Ob Lieferketten-Krise, Ukraine-Krieg oder die noch im Untergrund schwelende Corona-Pandemie: Krisenphänomene bestimmen derzeit wirtschaftliche Lage. Die Softwareentwicklung ist in besonderem Maße davon betroffen, wie der aktuelle Report der Tech-Beratungs- und Investmentbank GP Bullhound zur Softwareindustrie zeigt. Denn die IT-Industrie und vor allem die Softwareentwicklung ist in hohem Maße globalisiert.
So ist die Ukraine ein wichtiger Standort für Offshore- und Nearshore-Dienstleistungen in allen Branchen. Zwei Stärken des Landes sind Informationstechnologie und insbesondere die Softwareentwicklung. Der Einmarsch Russlands hat deshalb spürbare Auswirkungen auf die US-amerikanischen und europäischen Technologieunternehmen, die Software-Entwickler in Russland und der Ukraine beschäftigt oder beauftragt haben. Das dürfte den seit Jahren bestehenden Mangel an Talenten in diesem Bereich noch weiter verstärken.
Softwareentwicklung: IT-Experten verlassen Ukraine und Russland
Die Ukraine hatte bis Februar 2022 ein blühendes Startup-Ökosystem, mit mehr als 1.000 Unternehmen im Technologie- und Softwarebereich. Bekannte Namen sind Grammarly, Ajax Systems und Readdle. Viele Unternehmen sind gezwungen, Mitarbeiter und Standorte in andere Länder zu verlagern. Auch Russland hatte Stärken im IT-Bereich, doch der Angriffskrieg gegen die Ukraine hat trotzdem zu zwei Entwicklungen geführt: Zum einen ziehen sich große Technologieunternehmen wie Apple, Google und Meta (Facebook) aufgrund der Sanktionen aus Russland zurück. Zum anderen verlassen IT-Spezialisten das Land und emigrieren in andere Länder.
Zudem gestalten zwei weitere Ereignisse die weltweite Landschaft der Sicherheitssoftware rasch um. So hat die russische Regierung kürzlich angekündigt, dass sie bis 2025 keine westliche Software mehr für kritische Infrastrukturen verwenden wird. Im Gegenzug hat die US-Regierung das russische Antiviren-Softwareunternehmen Kaspersky auf ihre Liste der nationalen Sicherheitsbedrohungen gesetzt und US-amerikanische Unternehmen vor der wachsenden Bedrohung der Cybersecurity durch Russland gewarnt.
IPOs von Softwareherstellern abgesagt
Die Folgen dieser und weiterer Krisen sind noch nicht in Gänze absehbar. Es gibt aber bereits mittelbare Auswirkungen auf die Investitionstätigkeiten. Bei Börsengängen sind so gut wie alle Unternehmen und Investoren auf die Bremse getreten. Das erste Quartal 2022 war insgesamt das schwächste seit sechs Jahren mit nur 18 Börsengängen und einem IPO-Erlös von 2,1 Milliarden US-Dollar – ein Absturz um 95 Prozent im Vergleich zum Vorjahresquartal. In der Softwarebranche gab es sogar gar keinen einzigen Börsengang. Alle mit Spannung erwarteten IPOs wie beispielsweise Airtable wurden wegen der derzeit ungünstigen Bedingungen aufgeschoben.
Auch viele an der Börse fest etablierte Tech-Giganten agieren zurückhaltend und bereiten sich auf längerfristig schwierige Zeiten vor. Die Bewertung unseres selbst gebildeten SaaS-Index ist deutlich zurück gegangen. Es könnte auch schon eine beginnende Überkorrektur sein. So hat Oracle Aktien zurückgekauft und Atlassian die Schuldentilgung beschleunigt – mit Ausgaben in Höhe des fünffachen des operativen Cashflows. Das Motiv war hier sehr wahrscheinlich die Vorbereitung auf Zinssteigerungen und eine restriktive Geldpolitik in den USA. Andere Unternehmen sind etwas optimistischer und nutzen ihre teils sehr hohen liquiden Mittel für Übernahmen. So kündigte Salesforce Akquisitionen im Gesamtwert von fast 15 Milliarden US-Dollar an.
Softwareentwicklung: Universalwerkzeuge sind gefragt
Eindeutige Gewinner bei der Softwareentwicklung sind SaaS-Plattformen, die sich an den US-Immobilienmarkt richten. Beispielsweise die Kredithandelsplattform Polly. Sie bietet spezialisierte Automatisierungstools für Käufer, Verkäufer, Manager bei Immobilienunternehmen und Underwriter in Versicherungen oder Finanzinstituten. Das Produkt profitierte von dem enormen Boom des US-Immobilienmarktes in den letzten Jahren. Die hohe Nachfrage führte dazu, dass die meisten Immobiliengeschäfte weit über dem Angebotspreis abgeschlossen wurden. Die Immo-Software konnte dadurch ihren Kundenstamm stark ausweiten.
Die Softwarebranche hat sich unabhängig von den Krisen in den letzten Jahren weiterentwickelt und zeigt bedeutende Trends, die Unternehmen kennen sollten. So scheint bei der Softwareentwicklung die Ära der Einzellösungen vorbei zu sein. Durch die Leichtigkeit der SaaS-Nutzung hat sich in manchen Unternehmen Wildwuchs breitgemacht. Sie haben für jedes Einzelproblem ein neues Tool abonniert und genutzt. Die Folge: Kosten, Administrationsaufwand und Reibungsverluste bei der Zusammenarbeit der Lösungen untereinander wuchsen stark.
IT-Teams setzen verstärkt auf Bundle-Lösungen
IT-Verantwortliche sind zunehmend mit der Verwaltung der zahlreichen Einzellösungen überfordert und tendieren stärker zu Bundle-Lösungen. So haben Softwareanbieter wie Microsoft damit begonnen, in ihre Produkte Funktionen aufzunehmen, die sich mit bestimmten Einzeltools überschneiden. Ein Beispiel dafür sind Microsoft Teams und Slack.
Einige Softwareanbieter nutzen diesen Trend und bauen umfassende Plattformen auf, die mehrere Anforderungen von Unternehmen erfüllen. Ein Beispiel ist der Anbieter Coda, der Dokumente, Daten und Teamwork unter einer einheitlichen Oberfläche anbietet. Ein anderes Beispiel ist Connecteam, das Projektmanagement, Kommunikation und HR-Funktionen unter einem Dach vereint. In beiden Fällen ist automatisch für Integration und Datenaustausch gesorgt – anders als bei Einzeltools, die für die Zusammenarbeit nur Schnittstellen anbieten und die Integration dem nutzenden Unternehmen überlassen.
Sicherheit in den Lifeycycle der Softwareentwicklung integrieren
Integrierte Lösungen vereinfachen durch die übersichtlichere Administration auch die Security-Maßnahmen. Viele Unternehmen wollen künftig die Erkennung und Behebung von Schwachstellen verbessern. Vor allem das durch die Java-Sicherheitslücke (Log4Jam) verursachte Chaos zeigt, dass auch in scheinbar gut gewarteten Anwendungen Schwachstellen verborgen sein können.
Diese und einige andere Sicherheitslücken weisen darauf hin, dass Cybersecurity viel stärker in die Entwicklung, die Bereitstellung und den Betrieb von Anwendungen integriert werden muss. Ein hierfür häufig diskutierter Ansatz ist DevSecOps. „Dev“ steht für Entwicklung, „Sec“ für Sicherheit und „Ops“ für Betrieb. Es handelt sich um ein Konzept, das alle Aspekte der Softwaresicherheit in den gesamten IT-Lifecycle der Softwareentwicklung integriert.
Letztlich geht es darum, eine Kultur der Softwareentwicklung zu erzeugen, die Sicherheit bei allen Entwicklungsschritten und im gesamten IT-Betrieb integriert. So haben beispielsweise einzelne Softwareanbieter Funktionen und Dienste entwickelt, die einen Einstieg in den DevSecOps-Workflow ohne großen Aufwand ermöglichen. Diese Tools sind vorintegriert und unterstützen alle Aufgaben von Identitätsmanagement bis zu Continuous Integration und Delivery (CI/CD).
Neue Konkurrenz für Advertising-Plattformen
Eine weitere Neuerung im Softwaremarkt betrifft die Neukundengewinnung im E-Commerce. Bisher sind die Unternehmen auf eine geringe Anzahl an Plattformen wie Facebook, Instagram und Google Ads angewiesen. Doch seit einiger Zeit gibt es Konkurrenz für die großen Player. Services wie Bloomreach oder Varos erleichtern das Upselling in sozialen Medien und den Aufbau von loyalen Zielgruppen. Es ist im Moment unklar, ob diese Lösungen die traditionellen Marketing-Kanäle ersetzen werden. Sie bieten aber eine deutliche Verbesserung der Metriken und werden dadurch in Zukunft zu einer sinnvollen Option.
So zeigt sich, dass der Softwaremarkt weiterhin dynamisch und wachstumsorientiert bleibt, trotz aller Krisenphänomene. Allerdings ist der größte Unsicherheitsfaktor die weitere Entwicklung des Ukraine-Krieges. Einen Weg zum Status quo ante wird es wahrscheinlich nicht geben. Selbst im bestmöglichen Fall wird die Branche noch längere Zeit von diesem Umbruch gezeichnet sein.
Über den Autor: Julian Riedlbauer ist Partner und Leiter der deutschen Niederlassung des Technologie-M&A-Beraters und -Investors GP Bullhound. Das 1999 in London gegründete Unternehmen berät Technologie-Unternehmen, Gründer und Investoren im Bereich Mergers & Aquisitions (M&A) sowie Wachstumsfinanzierungen. Bevor Riedlbauer die Leitung des deutschen Büros übernahm, war er Geschäftsführer bei Corporate Finance Partners, einer M&A-Beratungsfirma mit den Schwerpunkten Internet, Medien und Technologie. Vor seinem Wechsel auf die Beraterseite sammelte Julian Riedlbauer als Gründer, Unternehmer und Manager von mehreren M&A-Deals im Internet-, IT- und TK-Sektor Erfahrung. (sg)
Aufmacherbild. BalanceFormCreative – Adobe Stock
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