27.11.2015 – Kategorie: Fertigung, IT, Technik

Künstliche Intelligenz: Ganz andere Denkansätze

Im Bereich der KI-Forschung zeichnen sich Quantensprünge in den Entwicklungen ab, die die Welt radikal verändern werden.

Wie Menschen und Maschinen in Zukunft auf eine ganz andere Art und Weise zusammenarbeiten werden und warum intelligente Produkte vorhandene Märkte und Industriebranchen neu aufmischen, nimmt dieser Beitrag unter die Lupe. Von Dr. Franz Bailom

Im Bereich der KI-Forschung zeichnen sich Quantensprünge in den Entwicklungen ab, die die Welt radikal verändern werden. Was genau in Sachen künstliche Intelligenz (KI) auf uns alle zukommen wird und warum in Zukunft intelligente Produkte sämtliche Märkte und Industrien revolutionieren werden, darüber diskutierten bei den IMP-Strategy Days 2015 am 23. und 24. April 2015 in Innsbruck renommierte Wissenschaftler aus der „Szene“. Und eines ist klar: Wenn die KI-Forschung auf die Hirnforschung trifft und sich führende Köpfe aneinander „reiben“, entsteht sehr viel geballte Energie für kreative, bessere, andere … nein: ganz andere Denkansätze. Zwei Standpunkte.

Fabriken, in denen intelligente Roboter das „Sagen“ haben

Selbstfahrende Autos, Computer, die bessere Diagnosen stellen als Ärzte, Softwareprogramme, die problemlos und kostengünstig den Steuerberater ersetzen, Handtaschen, die sich bei Ihnen „melden“, sobald Sie sich zu weit entfernen, Fenster, die die Außentemperatur und die aktuelle Wettervorhersage anzeigen, Kühlschränke, die selbständig für ihre Befüllung sorgen, Produkte, die aus dem „Drucker“ kommen oder Fabriken, in denen intelligente Roboter das „Sagen“ haben. Hätten Sie vor fünf oder zehn Jahren gedacht, dass diese Entwicklungen möglich sind? Wohl kaum. Tatsache ist aber, dass nicht nur sämtliche der angeführten Beispiele bereits heute eine mehr oder weniger „gelebte“ Realität sind und mit rasender Geschwindigkeit immer noch alltagstauglicher werden. Sondern wir können auch davon ausgehen, dass es sich dabei erst um den Beginn einer echten Revolution handelt. Die beiden Wissenschaftler E. Brynjolfsson und A. Mcaffee vom MIT folgern auf Basis umfangreicher Forschungsarbeiten, dass „The Second Machine Age“ radikaler und wesentlich schneller unser Leben und Wirtschaften verändern wird als die Erfindung der Dampfmaschine. Brynjolfsson und Mcaffee verweisen dabei unter anderem auf zwei fundamentale Treiber:

  1. Das immer leistungsfähigere digitale Umfeld wird zu einem Tummelplatz für intelligente Produkte und Maschinen.
  2. Die Grenzkosten digitaler „Ware“ werden soweit sinken, dass wir es mit ganz neuen Wettbewerbskonstellationen zu tun haben werden.

Was wir bereits heute erleben, ist ein Zusammenfließen mehrerer technologischer Entwicklungen auf einem sehr hohen Reifegrad. Ein Stichwort, das in diesem Zusammenhang auch häufig genannt wird, lautet „CAMSS“. Das Akronym steht für Cloud, Analytics, Mobile, Social und Security. Dabei müssen die Einzeldisziplinen bestimmte Schwellen überspringen. Es sind also unterschiedliche Technologie-Konglomerate, die nun völlig neue Möglichkeiten bieten. Und am Ende werden all diese Entwicklungen einen radikalen Effekt auf unsere Gesellschaft haben. [1] Wo die tatsächlichen Grenzen dieser Entwicklungen anzusiedeln sind, darüber herrscht jedoch keine absolute Einigkeit.

„Insbesondere die Entwick­lungen rund um das Feld Cognitive Computing werden die Welt massiv verändern …“
Prof. Dr. Martin Welsch, Chief Technology Advisor IBM, Universität Jena

Cognitive Computing ist nichts anderes als die Kombination folgender Fähigkeiten: die natürliche Spracherkennung (!), die Fähigkeit, Hypothesen (!) zu entwickeln und zu bewerten und das Vermögen des dynamischen (!) Lernens, also sich laufend weiterzuentwickeln. Im Grunde geht es bei all diesen Entwicklungen darum, die Art und Weise, wie unser Gehirn arbeitet, als Vorlage zu verwenden, um technische Lösungen zu erzeugen. Man will einen Computer entwickeln, der der Gestalt und der Funktion des Nervensystems nachempfunden ist. Das bedeutet, dass man ein physikalisches Modell baut, das sich genauso verhält wie eine Zelle im Nervensystem oder vielmehr wie ganze Netzwerke von Nervenzellen. Ein unglaublich komplexes Unterfangen, weil es gelingen muss, die Funktionsweise von Neuronen zumindest ansatzweise nachzubilden. Positiv stimmt, dass es bereits gelungen ist, spezielle elektronische Schaltkreise – basierend auf Neuristoren – zu entwickeln, die auch tatsächlich funktionieren.

Im Bereich der KI-Forschung zeichnen sich Quantensprünge in den Entwicklungen ab, die die Welt radikal verändern werden.

Vorhersagen werden präziser

Die neuen Technologien werden auch dazu beitragen, dass Entscheidungsfindungen in Zukunft faktenbasierter werden. Vorhersagen werden präziser werden und man wird dadurch besser steuernd in Systeme eingreifen und dynamisch interagieren können. Ein bereits gut funktionierendes Beispiel in diesem Zusammenhang sind Vorhersagen zur Verkehrsentwicklung. Heute ist es unter anderem möglich, nahezu in Echtzeit eine Verkehrsentwicklung für 20 Minuten vorherzusagen, wodurch man steuernd eingreifen kann. Man kommt also von der Analyse über Verkehrssensoren – eventuell unter Einbeziehung von mobilen Smartphones sozial vernetzter Verkehrsteilnehmer – über die Cloud wieder in die Realwelt zurück. Man kann sich vorstellen, dass sich diese Entwicklungen laufend verbessern werden. Echtzeit wird zum Qualitätskriterium schlechthin.

Mensch und Maschine ergänzen sich

Mit intelligenten Systemen kann komplexes und unstrukturiertes Wissen in einer neuen Servicequalität verfügbar und abrufbar gemacht werden. Ein neues Merkmal ist hier die natürliche Interaktion zwischen Mensch und Maschine. Beide ergänzen sich und „lernen“ voneinander. Für einen Mediziner ist es beispielsweise unmöglich, die ständige Flut an Neuerungen in seinem Fachgebiet zu verfolgen und vor allem: jederzeit abrufbereit verankert zu haben. Die neuen, intelligenten Systeme dienen zur Unterstützung bei der Diagnose und werden bei der Behandlung von Patienten eingesetzt, indem der Arzt dem System Fragen stellt und dabei die Symp­tome und weitere zugehörige Faktoren beschreibt. Das System beginnt dann mit der Analyse dieser Daten und kombiniert die erhaltenen Informationen mit aktuellen Befunden aus Untersuchungen und Diagnose-Geräten.
Anschließend analysiert es alle verfügbaren Datenquellen, um darauf aufbauend Hypothesen zu formulieren und auf Nachfrage auch nachvollziehbar darzulegen, welche Quellen gerade dieses Ergebnis stützen oder welche Alternativen mit welcher Bewertung noch bestehen könnten. Bei all den erhaltenen Informationen handelt es sich um Daten, die nicht für den Umgang mit Computern aufbereitet wurden: medizinische Fachartikel, Kommentare, Freitextinformationen in Patientenakten, aber auch Bilder, Videos, Wikis, Blogs und dergleichen mehr. Gerade im Bereich unstrukturierter Daten (Big Data) ist das Wachstum sehr viel größer als bei strukturierten.
Dazu tragen soziale Plattformen ebenso wie mobile Endgeräte massiv bei. Und mit den neuen, intelligenten Systemen ist es möglich, auf dieses unstrukturierte Wissen systematisch zuzugreifen. Dadurch können neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Menschen und Maschinen entstehen. [1]

„Es gibt keinen Intelligenzbegriff, der zwischen unterschiedlichen Spezies funktioniert … Ich persönlich bin der Meinung, dass es unmöglich sein wird, das menschliche Gehirn zu kopieren …“
Univ.-Prof. Dr. Martin Korte, Gehirn­forscher, Biologe und Zoologe, Technische Universität Braunschweig

In der Biologie beobachtet man lediglich, wie gut ein Tier in der Lage ist, die Probleme zu lösen, die ihm in seinem spezifischen Umfeld begegnen. Das heißt, man muss auch bei der künstlichen Intelligenz sehr vorsichtig sein und kann keinen direkten Vergleich mit der menschlichen Intelligenz anstellen – weil sich beide in unterschiedlichen Systemen bewegen. Künstliche Intelligenz wird innerhalb von technischen Systemen verwendet, um bestimmte Probleme zu lösen. Am längsten bekannt ist in diesem Zusammenhang sicherlich der Taschenrechner, der aber nach wie vor sehr gut veranschaulicht, dass bestimmte Rechenleistungen von Maschinen besser ausgeführt werden können. Und zwar besser, als wir Menschen das jemals können werden: Beliebig große Zahlen werden miteinander addiert, multipliziert, potenziert … und es werden hochkomplexe mathematische Funktionen und Rechenoperationen in einem Bruchteil von Sekunden umgesetzt.

Kein Vergleich: menschliche versus künstliche Intelligenz

In Bereichen, in denen Maschinen mit vergleichsweise stereotypen Regeln „gefüttert“ werden, sind sie also verlässlicher als wir. Aber NICHT, weil die menschliche Intelligenz KOPIERT wurde, sondern weil man einen Algorithmus gefunden hat, der zuverlässiger und schneller funktioniert. Die künstliche Intelligenz scheint sich ihre eigenen Nischen und Bereiche zu schaffen! Bereiche, in denen technische Lösungen realisiert werden, die in dieser Form im menschlichen Gehirn nicht realisierbar sind. Die „Nische“ bezieht sich also auf jene Bereiche, die wir Menschen nicht so gut erfüllen können. Und diese technischen Nischen weiten sich zudem als Ergebnis des Fortschritts aus und bieten so der künstlichen Intelligenz ein immer größer werdendes Feld. Das ist EIN Grund, warum es derart viele Anwendungsgebiete für die künstliche Intelligenz gibt.

Die natürlichen Grenzen künstlicher Intelligenz

Zudem kann auch beobachtet werden, dass ein Teil der KI immer dann große Schritte nach vorne machen kann, wenn die Hirnforschung entsprechende Meilensteine setzt und demonstrieren kann, wie menschliche Gehirne lernen. Dort, wo wir selbst noch im Dunkeln tappen, hinkt auch die künstliche Intelligenz hinterher. Durch die Arbeit der Gehirnforschung hat man auch erkannt, dass der Prozess des „Denkens und Lernens“ nicht einzig und allein im Großhirn vonstatten geht, das vergleichbar mit „Prozessoren“ ist, sondern dass dabei noch viele andere Gehirnregionen eine große Rolle spielen – allen voran sämtliche emotionale Zentren. Daher stellt sich sehr wohl die Frage, inwieweit bei der Entwicklung von künstlicher Intelligenz „natürliche“ Grenzen bestehen. Ich persönlich bin aber unabhängig von dieser Frage der Meinung, dass es unmöglich sein wird, das menschliche Gehirn zu kopieren! Die Komplexität unseres Gehirns ist dafür einfach zu groß. Man muss sich vor Augen halten, dass wir nicht nur eine Großhirnrinde mit 14 Milliarden Nervenzellen haben, die wiederum Zigtrillionen- synaptische Verbindungen aufweisen. Wir haben darüber hinaus noch 84 Milliarden Nervenzellen, die in den darunterliegenden Gehirnregionen liegen. Sie alle funktionieren nach eigenen Regeln.
Zur Verteidigung der künstlichen Intelligenz muss man aber auch sagen: Die meisten KI-Forscher haben nicht das Ziel, das menschliche Gehirn zu kopieren! Sondern man wird versuchen, Teilaspekte (!) technisch zu implementieren! Manchmal vielleicht mit denselben Algorithmen, die auch das Gehirn benutzt. Manchmal aber auch mit völlig anderen. Denn nicht immer geht das Gehirn den effizientesten Weg, da es „seine“ Algorithmen ja auch nicht immer ungestört und unter optimalen Bedingungen entwickeln durfte. Es ähnelt vielmehr einem „alten Gebäude“, das man immer wieder umbauen musste. Und aus diesen Umbauprozessen heraus musste sich das Gehirn auch immer nach Regeln und Gegebenheiten richten, die schon vorher da waren. Insofern hat das Gehirn nicht immer die kognitiv beste Lösung gefunden. [2] (ak)

Autor: Dr. Franz Bailom ist Geschäftsführer der Innovative Management Partner (IMP) GmbH.

Quellen:
[1] Prof. Dr. Martin Welsch im IMP-Interview: What´s up, Watson: Oder: Was sich aus Sicht von IBM Deutschland Research & Development in Sachen künstliche Intelligenz, Industrie 4.0, Neuromorphic und Quanten-Computing für die Zukunft abzeichnet. IMP Perspectives 6: Wachstum durch Differenzierung, Erscheinungstermin April 2015.
[2] Prof. Dr. Martin Korte im IMP-Interview: Künstliche Intelligenz: Eine eigene Spezies? Oder: Warum auch bei Robotern der Apfel nicht weit vom Stamm fällt. IMP Perspectives 6: Wachstum durch Differenzierung, Erscheinungstermin April 2015.


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